30 Jahre — Rückblick mit Weihnachtsgruß
Dieser Tage und Monate wurde und wird der verschiedensten einzigartigen Veranstaltungen im Zusammenhang mit den Umbrüchen vor dreißig Jahren gedacht.
Erinnerungskultur – ich bin mir nicht sicher, ob dieser Begriff vor 30 Jahren so bereits verwendet wurde – nennt es sich, wenn wir uns mit den Höhen und Tiefen unserer Vergangenheit auseinandersetzen und Schlüsse für die Zukunft ziehen. Wir erinnern uns an Vergangenes, ohne in der Vergangenheit zu verharren. Besonders das Umbruchjahr 1989 zeigt uns, dass ein Beharren auf die Erinnerung an deutsche und europäische Teilung und an die Unfreiheit der Menschen unter dem kommunistischen Joch Motor sein kann, um letztlich doch Veränderungen herbeizuführen, an die im freien Teil Deutschlands und Europas kaum noch jemand glaubte.
Die Vertriebenenverbände können sich wohl zu den wenigen Organisationen der alten Bundesrepublik Deutschland zählen, in denen der Glaube an die deutsche Einheit und an die Gerechtigkeit der Geschichte niemals nachgelassen hatte.
Wenn auch die Enttäuschung darüber groß war, dass 1990 sang- und klanglos, ohne eine Schweigeminute oder ein Wort des Bedauerns im Deutschen Bundestag die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze erfolgte, so konnte doch mit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahre 2004 immerhin die Freiheit erreicht werden, sich wieder in der Heimat niederzulassen, zu investieren, Eigentum zu erwerben und dort zu leben.
Für die Deutsche Volksgruppe – die Daheimgebliebenen – im heutigen Polen bedeutete das Wendejahr 1989, dass sie sich nun endlich wieder freier in ihrer Sprache und Kultur betätigen und organisieren durften, was ihnen die Jahrzehnte zuvor unter Androhung von schweren Nachteilen und Strafen verwehrt geblieben war.
Am 12. November dieses Jahres durfte ich an der Gedenkfeier zur Wiederkehr der Versöhnungsmesse 1989 in Kreisau teilnehmen, bei der sich Bundeskanzler Helmut Kohl und der polnische Ministerpräsident Tadeusz Masowiecky den Friedenskuss gaben. Wie vor dreißig Jahren zelebrierte der inzwischen emeritierte Erzbischof von Oppeln, Alfons Nossol, die Messe im alten Moltke-Gut Kreisau. Nossol erinnerte daran, dass die eigentliche Idee zu dieser Messe Helmut Kohl hatte, der sie gerne auf dem St. Annaberg in Oberschlesien abhalten lassen wollte. Aus Sorge vor den Reaktionen der lange unterdrückten deutschen Volksgruppe wurde auf Betreiben der polnischen Regierung davon Abstand genommen und das damals noch ruinöse Gut Kreisau bei Schweidnitz als Gottesdienstort ausgewählt. Dies war sicher keine schlechte Wahl. Viele Mitglieder der deutschen Volksgruppe kamen dennoch mit etlichen Bussen aus Oberschlesien gefahren, um an dieser Messe teilzunehmen und auf ihre berechtigten Anliegen aufmerksam zu machen. Berühmt wurde das Transparent mit der Aufschrift „Helmut du bist auch unser Kanzler“. Es mag sein, dass bei einer Messe auf dem Annaberg mit zehntausenden deutscher Oberschlesier als Teilnehmer ein völlig anderes Erinnerungsbild entstanden wäre und die deutsch-polnische Versöhnungsgeste durch die offensichtlich noch vorhandenen Benachteiligungen der Deutschen in Schlesien in den Hintergrund gerückt wären. An der durch die neue Reisefreiheit beginnenden Ausreisewelle vieler Oberschlesier in den Westen Deutschlands hätte auch das nichts ändern können.
Das Vertrauen in den die Menschen seit Jahrzehnten drangsalierenden, verleugnenden und bevormundenden, immer fremd gebliebenen polnischen Staat war dahin. So wie auch viele Menschen in der „DDR“ zunächst nicht bleiben wollten, trotz des Mauerfalls am 9. November.
Die Sorge vor der „chinesischen Lösung“, wie die Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking in der ersten Jahreshälfte 1989, war weit verbreitet und sicher nicht unberechtigt. Auch die ablehnende Haltung mancher SPD-Politiker in der alten Bundesrepublik zur Deutschen Einheit, inklusiv des Kanzlerkandidaten für 1990 Oskar Lafontaine und des späteren Bundeskanzlers Gerhard Schröder, schienen die Sorgen zu bestätigen, dass noch nichts dauerhaft in der Deutschen Frage erreicht werden könnte.
Als Glücksfall der Geschichte muss rückblickend bei aller Kritik, das geschichtsbewusste und rasche Handeln von Bundeskanzler Helmut Kohl angesehen werden. Der sowjetische Versuch, mit Gewalt die Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegung in den drei baltischen Ländern zu unterdrücken, wie auch der spätere Putschversuch in Moskau, zeigen, wie gefährlich die Lage im auseinanderbrechenden Ostblock war.
Preis für die Zustimmung zur Deutschen Einheit wurde die Anerkennung der bestehenden Grenzen und damit der Verzicht auf das eigentliche Ostdeutschland, welches seit 1945, bis auf das nördliche Ostpreußen, unter polnischer Verwaltung stand. Die Eigentumsfrage, so bestätigte der spätere Außenminister Klaus Kinkel, wurde durch die 2+4–Verträge nicht berührt und blieb offen. Zwar hatte die spätere Regierung Gerhard Schröder erklärt, dass die Bundesregierung etwaige, individuelle Eigentumsforderungen nicht unterstütze. Allerdings dürfte diese Frage spätestens dann wieder auf der Tagesordnung sein, wenn sich die polnischen Reparationsforderungen nicht nur als innenpolitisch motivierte Wahlkampfposse erweisen.
Im Jahr 1989 begann Europa wieder zusammenzufinden. Ein geflügeltes Wort war und ist das Bild des „Brückenbauens“ zwischen den Völkern. Der russisch-ukrainische Schriftsteller Lew Kopelew antwortete einmal zu der Frage sinngemäß: „Wir brauchten in Europa so viele neue Brücken gar nicht zu bauen, wir müssten vor allem die vorhandenen Brücken vom ideologischen Ballast befreien.“ Da hat er recht, finde ich. Es ist dieser ideologische Ballast, der versucht, den Menschen ihre Identität und Sprache zu nehmen, der aus individueller Verantwortung oder Neigung einen kollektiven Zwang oder zumindest eine einheitliche moralische Sprachregelung machen will. Damit das vorübergehend funktionierte, wurde Völkern und Volksgruppen durch zentralistische kommunistische und national-sozialistische Propaganda eingeredet, dass ihre Nachbarn, mit denen sie über Jahrhunderte friedlichen Austausch betrieben haben, ihnen heute feindlich gesinnt seien.
Für die Menschen westlich des Eisernen Vorhanges waren die Veränderungen nicht so dramatisch und emotional, weshalb auch heute noch ein gewisses Unverständnis für manche Haltung der Regierungen in Warschau oder Budapest vorhanden ist, wie auch innerhalb der Bundesrepublik Deutschland das leichtfertige Abstempeln mitteldeutscher Wähler als Nazis oder Rechtsextreme aus dieser anderen Erfahrung rührt. Zu leichtfertig wird in der alten Bundesrepublik vergessen, dass die Deutschen hinter Elbe sowie Oder und Neiße sehr sensibel verfolgt haben, wie seit den 1970er Jahren das grundgesetzliche Ziel der Deutschen Einheit als störend empfunden und beiseitegeschoben wurde. Durch die Wendeereignisse und den Einigungsprozess geriet auch schnell in Vergessenheit, dass die großen sozialpolitischen Reformen, Verwaltungsreformen oder gar die geistig-moralische Wende in den 1980er Jahren ausgeblieben waren. Ein in vielen Bereichen längst reformbedürftiges bürokratisches System West wurde eins zu eins auf den Osten der Republik aufgepfropft. Bei der Osterweiterung der Europäischen Union 2004 hätte die Politik aus vielen dieser Versäumnisse lernen können. Denn der vermittelte Eindruck, dass im vereinigten Europa nun erneut Kompetenzen von unten nach oben abgegeben werden müssen, wie die mittel-osteuropäischen Völker das aus Sowjetzeiten noch in schlechter Erinnerung haben, verstärkt manchen Trotz, seine Subsidiarität und Freiheit zu verteidigen.
Während meiner Teilnahme an den Veranstaltungen in Kreisau am 12. November konnte ich wiederholt lernen, warum viele Bevölkerungsteile in Europa derzeit so unzufrieden sind. Deutsche und polnische Kommunalpolitiker berichteten von ihren unterschiedlichen Erfahrungen bei grenzüberschreitenden Projekten. Polnische Politiker wundern sich über die Schwierigkeiten, die es auf deutscher Seite gibt hinsichtlich der langen und komplizierten Planungsdauer von Infrastrukturprojekten, während beide Seiten viel lieber heute als morgen nicht nur zusammenarbeiten, sondern auch wirklich zusammenwachsen wollen. Brüssel und Berlin viel stärker als Warschau verhindern durch ihre bürokratische Unbeweglichkeit, dass Europa wirklich zusammenwächst. Anscheinend trauen Politikern ihren Bevölkerungen nicht zu, dass sie viele Herausforderungen vor Ort viel besser lösen können und wollen. Zu Allem und Jedem wird versucht eine gemeinschaftliche Regelung zu definieren, wohl weil ein einmal installierter bürokratischer Apparat auch etwas abliefern müsse für seine Daseinsberechtigung.
Der Ruf nach Freiheit, der in Polen mit der Bewegung Solidarität begann und mit dem Fall der Berliner Mauer noch lange nicht verhallt war, ist heute noch immer von Nöten. Wer immer in Freiheit gelebt hat, dem fällt vielleicht nicht sogleich auf, dass Freiheit klare Bedingungen braucht. Dazu gehört ein klares Bekenntnis zur eigenen Identität in jeder Hinsicht. Der Versuch von Außen, den Menschen vorzuschreiben, wie sie richtig zu reden haben oder jede amtliche Anweisung, Sprache „geschlechtergerecht“ zu verballhornen, jedes moralische Umdeuten individueller Werte wie Nächstenliebe oder Willkommenskultur in kollektive Aufforderungen nimmt dem Einzelnen ein Stück seiner Identität und damit seiner Freiheit.
Auf uns Schlesier bezogen heißt das, dass der drohende Verlust unserer schlesischen Kultur durch das Aussterben der Generation, die Flucht und Vertreibung noch selbst erlebt haben, und durch das gleichgültige Nichtwissen um unsere Kultur und Geschichte der jüngeren Generation viel schwerere Schäden unserer Gesellschaft und unserem gemeinsamen Europa zufügen würde, als es die meisten heute wahrhaben wollen. Ich lade Sie und Euch dazu ein, dem entgegenzuwirken.
Jetzt in der Adventszeit feiern viele schlesische Heimatgemeinschaften, landsmannschaftliche Gruppen und auch Familien besinnlich oder fröhlich auf nieder- oder oberschlesische Art. Die lebendigen Barbarafeiern der Oberschlesier, der heilige Nikolaus und letztlich das Weihnachtsfest mit unserem typischen Schlesischen Essen geben doch Zeugnis davon, was ein Teil unserer Identität ist.
So wünsche ich Ihnen und Ihren Familien eine besinnliche Adventszeit sowie ein friedliches, frohes Weihnachtsfest im Kreise Ihrer Lieben. Zum Jahreswechsel dürfen wir uns erneut erinnern an die erste Sylvesterfeier vor dem wieder zugänglichen, von einem schlesischen Baumeister errichteten Brandenburger Tor vor dreißig Jahren und gleichzeitig zuversichtlich in das kommende Jahr schauen, in dem wir als schlesische Landsmannschaft enger und stärker zusammenrücken, um gemeinsam unser Erbe an die nächsten Generationen weiterzugeben.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr Stephan Rauhut
Bundesvorsitzender der Landsmannschaft Schlesien
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ps Pressedienst Schlesien Nr. 06/2019
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