Flucht und Vertreibung
Vor Kriegsbeginn 1939 lebten rund 4,6 Millionen Menschen im etwa 40.000 qkm großen Schlesien. Als die sowjetischen Streitkräfte im Januar 1945 die Grenze zu Schlesien überschritten, begann für Millionen Schlesier bei eisiger Kälte die Zeit der Flucht. Offiziell „evakuiert“ werden durften nur Frauen, Kinder und alte Menschen. Bei Minustemperaturen ließ der NSDAP-Gauleiter von Niederschlesien, Karl Hanke, etwa 60.000 Frauen und Kinder aus Breslau verjagen, weil die Stadt zur „Festung“ ausgebaut werden sollte. Die Evakuierung bzw. Flucht der schlesischen Bevölkerung verlief in aufeinanderfolgenden Wellen, die, vom Vordringen der sowjetischen Streitkräfte bestimmt, jeweils verschiedene Landesteile ergriffen. Etwa 1,6 Millionen flohen zunächst ins Sudetenland, weitere 1,6 Millionen weiter nach Westen.
Die Flüchtenden gerieten oft zwischen die Fronten und in die Kampfhandlungen. Vielfach überrollte die rasch vorrückende Rote Armee die Trecks. Zehntausende Flüchtlinge starben an Kälte und Hunger oder wurden von sowjetischen Truppen misshandelt, vergewaltigt oder ermordet. Nach Abschluss der Kampfhandlungen versuchte eine große Zahl der geflohenen Schlesier wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Aus den Sudetengebieten schätzt man die Zahl der Rückkehrer auf rund 800.000, aus den westlichen Reichgebieten auf etwa 200.000.
Obwohl bis zum Beginn der Potsdamer Konferenz (17. Juli – 2. August 1945) eine Regelung über den Verbleib der deutschen Bevölkerung in Schlesien noch ausstand, begannen bereits im Frühjahr 1945 die sogenannten „wilden Vertreibungen“, die von polnischen Stellen organisiert wurden. Die hierzu erlassenen Bierut-Dekrete ermöglichten die Einziehung des gesamten beweglichen und unbeweglichen Eigentums von Personen deutscher Nationalität oder Staatsbürgerschaft zugunsten des polnischen Staates. Im Juni 1945 wurden alle Deutschen aus einem Gebietsstreifen von etwa 30 Kilometer Breite unmittelbar östlich der Lausitzer Neiße vertrieben. Aufgrund der Potsdamer Beschlüsse begann ab 1946 eine systematische Vertreibung der verbliebenen deutschen Bevölkerung, die bis 1947/48 andauerte. Das Eigentum der geflüchteten und vertriebenen Deutschen wurde im Jahre 1946 durch zwei polnische Dekrete als „verlassenes bzw. herrenloses Gut“ entschädigungslos konfisziert.
Die Gebiete Schlesiens, die bis zum Münchner Abkommen von 1938 Bestandteil der Tschechoslowakei gewesen waren, also Gebiete des früheren Österreichisch-Schlesien, aber auch das Hultschiner Ländchen, fielen 1945 an die wiedererstehende Tschechoslowakei. Die deutsche Bevölkerung wurde auch hier mehrheitlich vertrieben.
Die Zahl der Toten bei der Flucht und Vertreibung aus Schlesien ist nicht exakt bekannt. Ausweislich der „Gesamterhebung zur Klärung des Schicksals der deutschen Bevölkerung in den Vertreibungsgebieten“ (München, 1964) sind 51.926 namentlich bekannte Schlesier (ohne Breslau) nachweislich „bei und als Folge der Vertreibung“ ums Leben gekommen, einschließlich 2.308 Suizide. Hinzu kommen 210.923 namentlich bekannte „ungeklärte Fälle“, davon 93.866 mit Vermisstenhinweis und 48.325 mit Todeshinweis. Für Breslau, das gesondert erfasst wurde, betragen die Zahlen: 7.488 nachweislich Umgekommene, davon 251 Suizide. 89.931 namentlich bekannte ungeklärte Fälle, davon 37.579 mit Vermissten- und 1.769 mit Todeshinweis (Band II, S. 456 der Gesamterhebung). Von den Oberschlesiern sind 41.632 nachweislich umgekommen, davon 302 durch Suizid. Von den 232.206 namentlich erfassten ungeklärten Fällen lag für 46.353 ein Vermissten- und für 2.048 ein Todeshinweis vor. Dies ergibt eine Gesamtzahl von 634.106 geklärten Todes- und ungeklärten Vermisstenfällen im Zusammenhang mit der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Schlesien. Bezogen auf eine Gesamtzahl von 4.592.700 Einwohnern (Volkszählung 1938) ergibt dies einen Bevölkerungsverlust durch geklärte Todes- und ungeklärte Vermisstenfälle von 13,8 % der Gesamtbevölkerung. Rechnet man aus den 4.592.700 Einwohnern noch die bereits im Krieg umgekommenen und die im Kriegsverlauf geflohenen Einwohner heraus, so liegt der prozentuale Anteil noch weit höher.
Nach dem Zweiten Weltkrieg behandelten die Alliierten auf der Potsdamer Konferenz Deutschland in den Grenzen von 1937. Das östlich der Oder-Neiße-Linie gelegene Gebiet der Provinz Schlesien wurde 1945 offiziell unter polnische Verwaltung gestellt. Entsprechend der getroffenen Vereinbarung sollte die endgültige Festlegung der Grenze zwischen dem vereinten Deutschland und Polen einer abschließenden Friedenskonferenz vorbehalten bleiben. Erst der am 12. September 1990 unterzeichnete „Vertrag über die abschließenden Regelungen in Bezug auf Deutschland“ (Zwei-plus-Vier-Vertrag) legt die bestehenden Grenzen endgültig fest. Das vereinigte Deutschland verpflichtete sich im Zuge der staatlichen Vereinigung, keine Gebietsansprüche auf die seit dem Zweiten Weltkrieg de facto, jedoch nicht völkerrechtlich zu Polen und der Sowjetunion gehörenden Gebiete des Deutschen Reiches östlich der Oder-Neiße-Linie zu erheben. Die DDR hatte sie bereits 1950 im Görlitzer Abkommen als „Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen“ anerkannt und als „unantastbare Friedens- und Freundschaftsgrenze“ bezeichnet.